Op-Art und kinetische Kunst: Licht und Bewegung

Op-Art und kinetische Kunst: Licht und Bewegung
Op-Art und kinetische Kunst: Licht und Bewegung
 
Licht breche die »feste Form als Maßeinheit des Raumes« auf, schrieb Gyorgy Kepes, einer der Pioniere der Lichtkunst und der kinetischen Kunst, 1944 in seiner Untersuchung über die »Sprache des Sehens«. Um die Schwingung, in der sich Licht äußert, sichtbar zu machen, muss man diese irritieren. Die fließenden oder vibrierenden Muster des Lichts lassen sich nicht in eine modellierbare Form fassen, entziehen sich in ihrer Wahrnehmung dem sukzessiven Erfassen einer Gestalt und verweigern den visuellen Fixpunkt. Virtuelle Bewegung im Bild, reale Bewegung im Raum, Flimmern oder Flickern, Vibration oder Rotation zeichnen eine Kunstform aus, die während der Sechzigerjahre mit der Op-Art - der Kurzbezeichnung für »Optical art« - und etwas später mit der kinetischen Kunst ihren Höhepunkt erreichte. Der Ansatz beider Kunstrichtungen ist kalkuliert und spielerisch zugleich. Im Gegensatz zu Tachismus und Informel sind beide aber nicht mehr an existenzialistischen Fragestellungen, sondern an Wahrnehmung und Gestaltung der Umwelt interessiert. Vor allem ist die kinetische Kunst jedoch vom Optimismus des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts der Wiederaufbauzeit geprägt, von Kybernetik, den neuen Informationssystemen und Technologien inspiriert.
 
Das Interesse, das Künstler wie Victor Vasarély, Jesús Rafael Soto, Yaacov Agam, Carlos Cruz-Díez, Bridget Riley oder François Morellet Fragen der optischen Wahrnehmung entgegenbrachten, begründete die Op-Art. Charakteristisch für diese Kunstrichtung ist die extreme retinale Stimulation: Das Auge des Betrachters wird durch Farbkontraste oder durch grafische Elemente - schwarz-weiße Linien oder Strukturen, Perspektiv- und Moiréerscheinungen, umspringende Formen im Figur-Grund-System oder Simultaneffekte - bewusst überbeansprucht. Vorläufer solcher optischer Experimente finden sich im russischen Konstruktivismus, in der De-Stijl-Bewegung und im Bauhaus. Obwohl man immer wieder die Nähe der Op-Art zum Kunstgewerbe und zum klassischen Ornament betonte, geht es ihr in erster Linie um die visuelle Wahrnehmung, den Vorgang des Sehen selbst. Insofern verweisen ihre Kunstwerke auf Versuche der Gestalttheorie, sind diese zwischen wissenschaftlicher Analyse und dem »Spiel« mit der Fehlbarkeit des Auges anzusiedeln.
 
Ansatzpunkt vieler Künstler dieser »neuen Tendenz«, zu denen Gruppen wie »Zero« in Deutschland, »Groupe de Recherche d'Art Visual« (GRAV) in Frankreich, »Nul« in den Niederlanden sowie »N« und »T« in Italien gehörten, war die Analyse des Sehprozesses. Die Op-Art erzeugte die Illusion von Bewegung noch im Bild selbst; die kinetische Kunst eignete sich ihre Gestaltungsprinzipien an, übersetzte deren Strukturen in ein kinetisches Flächenwerk oder löste über Lichtreflexionen die Oberflächenstruktur, die Faktur, immer mehr auf. Durch Oberflächenraster entstanden auf diese Weise instabile, bewegliche Strukturen, die von der Eigenbewegung des Betrachters abhängig sind und sich entsprechend seinem Blickwinkel verändern. Programmatisches Ziel der GRAV war daher, den Betrachter zu animieren, an der Bewegung, die im Kunstwerk mittels der Strukturen und Licht(reflexe) gestaltet ist, aktiv teilzunehmen.
 
Zero und Nul gelangten demgegenüber, beeinflusst durch die monochromen Farbexperimente von Lucio Fontana und Yves Klein, zu kinetischen Lichteffekten. Zero war eine der ersten Gruppen, die sich mit Licht und Bewegung befassten. Farbe und Faktur begriffen die Zero-Künstler über das Licht. So trug Otto Piene auf seine reliefartigen Oberflächen glänzende Aluminumfarbe auf, um dadurch das fakturbedingte Licht- und Schattenspiel in seinen Rasterbildern zu steigern. Heinz Mack erzielte optische Wirkung über Lichtreflexe, die von poliertem und strukturiertem Metall ausgehen. Die Farbe wird durch das Licht ersetzt - oder wie Mack 1959 schrieb: »In meinen Lichtreliefs, in denen das Licht selbst anstelle der Farben zum Medium wird, bewirkt die Bewegung außer der Lichtvibration eine neue, immaterielle Farbe und Tonalität
 
Infolge der Entmaterialisierung der Farbe dehnte sich das Kunstwerk in den Raum aus. Künstliches Licht wurde dabei selbst als Gestaltungsmittel eingesetzt: Durch Rasterlöcher wurde es an die gegenüberliegende Wand projiziert, kinetische Metallplastiken setzten es in Bewegung. Unterstützt wurden die Lichtimpulse und -vibrationen durch Motoren. Der Impuls dazu ging von dem Schweizer Jean Tinguely aus, der mit seinen funktionslosen Maschinen eine reine Bewegungskunst entwarf. Dagegen begriffen die Zero-Künstler Licht als das Medium der Bewegung, um den Raum zu erobern und diesen zu entgrenzen. Der Mensch solle sich hierbei die Technik zu Eigen machen. Über das Licht streben sie im Zeitalter der Raumfahrt eine Harmonisierung von Natur und Technik als Utopie eines - so Piene - neuen »Garten Eden« an.
 
Diese lichtkinetischen Experimente gingen zurück auf das Bauhaus, namentlich auf László Moholy-Nagys »Lichtrequisit«. Lichtkinetische Wandbilder des Ungarn Nikolaus Braun oder Farbkinetik durch Lichtprojektionen von Ludwig Hirschfeld-Mack können ebenso als Vorbild gelten wie die Lichtreklame an Häuserfassaden oder Lichtskulpturen im öffentlichen Raum. Diese Projekte waren von der utopischen Gesinnung getragen, dass die technischen Innovationen der Raumgestaltung durch Licht die Wahrnehmung erweitern würden und der Mensch dadurch verändert werde. In gewisser Weise griffen diese Projekte der Lichtkinetik im urbanen Raum voraus, wie sie in den Sechzigerjahren von Nicolas Schöffer und Julio Le Parc, der Gruppe »Bewegung« in der UdSSR oder den Zero-Künstlern geplant und teilweise auch realisiert wurden. Ihre ungebrochene Technikgläubigkeit war aber auch einer der Gründe dafür, weshalb die Lichtkinetik in den Siebzigerjahren nicht mehr weiterverfolgt wurde; die Videokunst und die elektronische Kunst haben sie ersetzt.
 
Dr. Anne Hoormann
 
 
Kunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Ingo F. Walther. 2 Bände. Köln u. a. 1998.
 Thomas, Karin: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 101998.

Universal-Lexikon. 2012.

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